Auf dieser Seite stelle ich mich und mein Ostsee-Segel-Projekt vor.
Kurz und knapp: ich habe vor dieses Jahr mit meinem Segelboot einmal um die Ostsee zu fahren. (Für alle "Nichtblogger", es wird von unten nach oben gelesen! Und ihr könnte auch gerne Kommentare schreiben!)

Freitag, 15. Oktober 2010

dictum factum



Das ist die erste, seit langer Zeit versprochene Zusammenfassung der Reise in Zahlen.
Um alle Bilder zu sehen, muss der Beitrag vom Blog aus "gelesen" werden (von der Internetseite einfach dem Link folgen). Zum vergrößern der Bilder, drauf klicken.


Sonntag, 10. Oktober 2010

Wolle im Kopf

„Und wie war’s?“ – Gute Frage, aber mal ehrlich, was soll ich darauf antworten! „War scheiße“? – Wäre es das gewesen, hätte sich das schon schnell genug herum gesprochen und die Antwort, dass es „gut“ war, ist wohl so aussagekräftig wie eine Stricknadel in einem Wollknäuel. Und deshalb stehe ich jedes Mal wieder mit großen Augen vor der Frage und mein Gehirn verknotet sich nach einer angemessenen, smalltalk- fähigen Antwort.
Fünf Monate und reichlich Länder, Leute und Erfahrungen, aber wie es war – es tut mir Leid, ich habe keine Antwort, ich habe keine Ahnung wie es war. Ich bin jetzt wieder hier. Es ist ein nahtloser Übergang zum 5.Mai (ein Tag bevor ich gefahren bin). Wieder sitze ich in meinem viel zu bunten Zimmer mit der Janosch-Sternenhimmel-Tapete und um mich herum ein riesiger Haufen Segelsachen, Klamotten, Bücher, Hefte, Equipment, nur habe ich diesmal nicht die Aufgabe es alles ins Boot hineinzuquetschen, sondern irgendwie für alles den ursprünglichen Platz wieder zu finden. Der Grund, weshalb das Zeug hier immer noch herum liegt, obwohl ich schon wieder seit zwei Wochen hier bin, ist ziemlich einfach: ich will gar nicht hier sein. Natürlich ist es wunderschön meine Familie und Freunde und alle wieder zu sehen und zu Hause ist es ohne Frage auch immer schön, aber ich fühle mich ein wenig deplaziert und planlos. Eine ganze Woche stand das Boot genauso am Steg, wie ich es verlassen hatte.
Mir fehlt noch ein wenig die Orientierung. Ich habe mir sehr viel vorgenommen, was ich alles machen möchte, wenn ich wieder zu Hause bin, aber ich bekomme meinen Kopf einfach nicht frei. Mir fällt es sogar äußerst schwer diese Sätze hier zu formulieren. Aber jetzt keine vorschnellen Schlüsse, bis ich bereit bin für die Geschlossene dauert’s noch!!
Ich fühle mich hier eigentlich ganz wohl, ich muss nur neu Laufen lernen und einfach wieder einen Rhythmus in meinen Alltag bekommen. Aber das passiert ab morgen wohl von alleine, denn da fängt die Uni an und ich kann mich endlich wieder mit lebenswichtigen Fragen beschäftigen, mit dem Sinn des Lebens, dem Warum und Woher der Welt, hermeneutischen Identitäten und wie es mir geht – gerade geht’s mir übrigens ganz gut.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Ich will aber! Ich will aber! Ich will aber!

Der unmögliche Rückfahrtsmarathon lässt sich weder in drei Sätzen, noch in drei Zeilen zusammen stümmeln, deshalb werden diese Woche der Sandmann, der Osterhase, der Weihnachtsmann, der Storch, der Nikolaus und die Zahnfee jeweils eine Geschichte aus den turbolenten letzten Tagen als Gutenachtgeschichte bringen.(Die Tage werden rückwärts gezählt.)

Tag 1 – Ich komme wieder

Und das war’s nun? Wir stehen in der Schleuse Spandau, festgemacht an einem anderen Boot und langsam senkt sich das Wasser. Gleich werden die Tore aufgehen, wir in meinen Verein fahren, wo meine Eltern und vielleicht ein paar Bekannte warten und dann zu Hause ins Bett fallen. Wir sind fertig mit uns und der Welt. Die letzten Tage waren zwar noch mal echt schön, aber anstrengend – sehr anstrengend. Heute Morgen ging es wieder um fünf Uhr los. Zwar konnte man noch absolut gar nichts sehen und das Erkennen der Umrisse war auch eher Glücksfrage, aber wir hatten ausgerechnet, dass wir es schaffen könnten. Wenn wir um kurz nach fünf loskommen, müssten wir mit gutmütigen Schleusenwärtern ungefähr um 22 Uhr ankommen. Es ist zwar Sonntag, aber immer noch eine halbwegs humane Zeit. Hilft also alles nichts. Im dunklen Kanal fahren ist eine recht gruselige Angelegenheit, vor allem, wenn so viele Stöcke herumschwimmen. Deshalb muss Joschka mit unserer größten Taschenlampe vorne an der Spitze knien und in regelmäßigen Abständen einmal rund leuchten – nur nicht zu viel, denn mit so einem Nebel blendet das einfach nur extrem. Erste Schleuse kommt, Schiffsheberwerk kommt, zweite Schleuse kommt und der Motor rattert ohne Zicken. Irgendwann kommen wir an der Werkstatt vorbei, zu der wir uns auf der Hinfahrt gerade noch so geschleppt hatten und haben schon Angst, dass unser Motor im Anfall von Sehnsucht sich wieder verabschieden könnte, aber er bleibt stark. Er meckert nicht einmal, als wir noch einen halben Knoten beschleunigen und von da an mit 5,5 Knoten über die Kanäle flitzen – braves Ding, ich bin begeistert.
An sich steht Joschka fast den ganzen Tag am Steuer. Ich brauche noch etwas Zeit mit mir und meinem kleinen Boot… Ok, genug Sentimentalitäten. Es war bis jetzt alles gut gegangen, so unglaublich gut, fast zu gut.

Wir sind weit vor unserer Zeit, durch die Schleusen können wir nur so durchflutschen. Vor der letzten haben wir aber am meisten Angst: Schleuse Spandau. Das letzte Mal, dass ich in diese Richtung wollte, mussten wir vier Stunden warten – das würde alles versauen. Aber auch hier ist irgendeine höhere Macht an der Kurbel. Als wir um die erste Ecke biegen, zeigt das Licht schon grün. Bis zur zweiten Ecke und damit bis zur Schleuse sind es aber noch gefühlte fünf Minuten und die ganze Zeit leuchtet mich dieses grüne Licht frech an, als will es mir sagen: „Hehe, ich geh gleich aus!“ – geht es aber nicht! Wir biegen um die letzte Ecke und es ist immer noch an. Wir können einfach so in die Schleuse fahren, als hätten sie extra auf uns gewartet, dabei haben wir niemanden über Funk erreicht.
Die Schleusentore gehen auf – ich bin wieder zu Hause. Als wir auf die Spandauer Brücke zufahren trötet es plötzlich; die Brücke zeigt ein rotes Licht an, aber wo sollte ich denn sonst lang fahren?! Gerade will sich die Verzweiflung in mir breit machen, als Leonie, die wir an der Spandauer Schleuse aufgesammelt hatten, fragt, ob ich den Mann da oben auf der Brücke kenne. Natürlich kenne ich ihn und noch einmal trötet er. Es sind die Ahlburgs aus unserem Verein, die uns begrüßen! Hinter der Brücke warten Uli und Crew auf seinem Schiff auf uns – holla, ist das schön alle wiederzusehen. Ich bin einfach nur glücklich, auch wenn es seit der Berliner Grenze unaufhörlich regnet. Das ist mir egal, so sind wir losgefahren, so müssen wir halt auch wieder ankommen.
Auf dem Kanal hatte ich genug Zeit, alle Gastlandsflaggen zusammenzubinden und mit dem Bootshaken als Mast zu den Seiten des Boots zu spannen. Ursprünglich waren sie mal ganz ordentlich alphabetisch geordnet, aber dann musste so viel rumgerückt werden, dass ich jetzt nur noch hoffe, dass keine falsch rum hängt, denn Uli macht gerade Fotos: „Guck mal, das war Merle, die nach fünf Monaten immer noch nicht wusste, wie die polnische Flagge aussieht.“ – Mensch wäre das peinlich. Wir biegen um die Ecke zum Verein und ich muss einfach nur die ganze Zeit wie verstrahlt grinsen. Es regnet zwar immer noch, aber die Sonne ist dafür immer noch nicht untergegangen, das heißt es ist gerade mal 19+ Uhr – ist das nicht toll?! Ich finde, da muss man sich einfach freuen.
Auf dem Steg stehen eine ganze handvoll Regenschirme mit Leuten unten dran, die alle auf uns gucken. Und wieder geht das Getröte los. Diesmal sind wir aber vorbereitet und tröten zurück. Am Steg werden wir herzlich empfangen, beeilen uns aber trotzdem, dass wir schnell ins warme und trockene Vereinshaus kommen. Dann kommt der unangenehme Teil, aber meine Mutter hält es zum Glück ziemlich kurz: „Schön, dass du und ihr wieder da seid!“ Uns prosten ein paar Duzend Leute zu. Vielleicht 40? Mehr, weniger, ich habe keinen Überblick, auf jeden Fall sind es alles Menschen, die ich ganz doll lieb habe, was noch ein viel größerer Grund zu noch viel größerer Freude ist – ich könnte platzen.
Abends schlafe ich seit Langem mal wieder in einem richtigen Bett – in meinem Bett. Ich warte auf etwas, worauf mich so viele Leute vorbereitet hatten: „Ick sag dir, dat wird schaukln.“ Tut es aber nicht! Ich bin ein wenig enttäuscht. Hab ich was falsch gemacht? Ich glaube nicht, der Sommer war so wunderbar, so unglaublich schön, das kann nicht falsch gewesen sein. Das einzige was vielleicht falsch ist, ist das ich hier im Bett liege und es wohl noch eine Weile dauern wird, bis ich wieder ablege. Aber auch eine Weile ist zeitlich begrenzt. Ahoi!

(Es wird wohl noch eine Sammlung von Daten und Fakten folgen, aber die muss ich erstmal alle auswerten.)

Plan VI

Standort: Berlin (Deutschland)
Distanz bis Berlin: 0 sm
Verbleibende Zeit: 0 Tage
Durchschnittliche Tagesstrecke: 0 sm
Status: Ça y est!


Tag 2 - falsche Aggregatzustände 

Wenn der Wecker morgens um 4 Uhr klingelt, man mit höchsten rhetorischen Mitteln versucht seine Augen zum Öffnen zu überreden, man dann den Atem sieht, weil es nicht über drei Grad hat, Wasser von der Decke tropft, man nur gute vier und ein bisschen Stunden geschlafen hat und das nicht mal gut, die erste Erinnerung der noch stehende Mast ist und keine Milch mehr für das allmorgendliches Müsli da ist, gibt es keinen Grund aufzustehen. Wer das dann doch macht, wird sich im nächsten Moment unglaublich über sich selbst ärgern, denn der Nebel ist so dicht, dass die Sicht gerade bis zur Ausfahrt des Hafens reicht, sich dahinter aber die ganzen Untiefen befinden – Wecker auf eine Stunde weiter gestellt und in Jeans und Pullover wieder ab ins Bett. Ich kann nicht mehr schlafen und gehe an den Rechner, um noch ein paar Sachen zu erledigen.Als wir dann endlich losfahren, hat sich eigentlich noch nichts geändert. Der Nebel ist eher noch dicker geworden, dafür ist es inzwischen hell und der Rest lässt sich schon irgendwie erahnen. In Stettin versuchen wir dann, den Hafenmeister und einen Kran zu finden, wir haben es nämlich eilig. Der Tag hat ja gleich mit zwei verlorenen Stunden angefangen, so dass wir hier nur noch ein Zeitfenster von einer halben Stunde haben. Die brauchen wir allerdings schon, um überhaupt den Hafenmeister zu finden. Der erzählt uns, dass es den Kran nicht mehr gibt, wir aber zu der Marina neben an gehen könnten. Ganz bestimmt nicht! – die wollen für unseren kleinen Mast 40€ haben. Die einzige Alternative: Selber legen.
Der Hafenmeister, ein kleiner alter Mann, der, als ein Motorboot vorbeifährt, fast von meinem Boot fällt, behauptet das schon mal gemacht zu haben. Als dann aber noch zwei starke Männer dazu kommen, bin ich beruhigt. Wanten und Fock sind ab, die Runterlassleine ist gespannt, die zwei Männer stehen hinten, ich nehme die Leine, es macht rtzsch, die Leine fällt aufs Deck, ich gucke doof. Zum Glück hat Joschka den Mast noch am Vorstag in der Hand, sonst wäre es jetzt wirklich schnell gegangen. Aber auch so geht es ziemlich schnell. Wir nehmen ein anderes Seil und der Mast ist unten. Joschka geht noch schnell den letzten Dieselkanister voll machen und los geht’s unter der ersten Brücke durch, unter der zweiten und dritten, vorbei an Schubis, Westoder, Ostoder, noch mehr Brücken, andere Booten, dann ist es dunkel.
Wir wollten eigentlich bis zum Schiffshebewerk Niederfinow kommen, aber die Sonne muss sich heute wohl schon drei Stunden früher verabschiedet haben. Immerhin sind wir schon in Deutschland, in Stolpe, drei Stunden von unserem eigentlich Ziel entfernt, aber hier gibt es ein Restaurant und das ist mehr als Grund zum Bleiben. Ich bin ein wenig geschockt vom Preisunterschied, aber das einzige, was wir noch an Bord haben, sind passierte Tomaten und da das der Stand seit fast zwei Tagen ist und man das irgendwann nicht mehr sehen kann, gibt es für mich Pilze, für Joschka ein Steak und zum Nachtisch für uns ein kaltes Bett. Das letzte was ich an diesem Abend sehe bevor ich das Licht ausmache, ist mein Atem, der sich weiß im Raum ausbreitet und aussieht wie eine kleine Schäfchenwolke. Wenn man die Augen zusammen kneift, kann man die Worte „ich will aber“ erkennen, aber vielleicht ist es auch nur eine überdimensionale Spaghettizange in einem Blumentopf – wer weiß das schon so genau.


Plan V

Standort: Stolpe (Deutschland)
Distanz bis Berlin: 66 sm
Verbleibende Zeit: 
1 Tage
Durchschnittliche Tagesstrecke: 66 sm
Status: ohne Schleusen könnte man noch mal drüber reden


Tag 3 - wir haben Grund zum Feiern

Heute kann es regnen, stürmen, oder schnei'n, (regnen - ok, stürmen - NEIN, schneien - auf gar keinen Fall! Aber wie wärs mit Sonne...)
denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein. (um drei Uhr morgens strahlt niemand)
Heut' ist dein Geburtstag darum feiern wir, (das Feiern holen wir ganz bestimmt in Berlin nach)
alle deine Freunde freuen sich mit dir, (ja ja, ich weiß, dass du noch mehr Freunde hast als nur mich)
alle deine Freunde freuen sich mit dir. (wie gesagt, in Berlin dann...)


Wer kann von sich schon behaupten, seinen Geburtstag jemals so intensiv erlebt zu haben: 20 Stunden wach und genug Zeit zum Selbstreflektieren. Wir wollten endlich mal Meilen aufholen, die in den letzten Tagen so auf der Strecke geblieben sind, deshalb ging es um 3 Uhr (!) husch, husch aus dem Bett. An sich hatten wir auch gar nicht die große Wahl, Wir würden mindestens zwei Tage im Kanal brauchen, vor allem, wenn man diese schrecklich unberechenbaren Schleusen berücksichtigt. Das heißt, wir müssten heute mindestend bis Stettin kommen und am bestens auch noch den Mast legen - na, wenn's sonst nichts ist, sind ja auch nur 81sm.

Während Joschka den Schlafsack rausholt und es sich draußen zum Schlafen bequem macht, kommen mal wieder all die anstrengenden Fragen und Gedanken in mir hoch, die sich ohne Anspruch auf Antwort angestaut hatten. In drei Tagen will ich zu Hause sein und was dann? Was würde dann passieren? Würde ich dann plötzlich wissen, was mein Leben von mir will? - Eigentlich hatte ich gehofft, das auf der Reise rauszufinden. Wie wird das Studium? Was mach ich mit dem Boot? War's das dann? Oder bleibe ich nur eine Woche und lege dann wieder ab? Was wird aus meinem Plan Match-Race zu segeln? Wird zu Hause alles wie vorher sein? Was machen meine Freunde? Man sollte meinen in der Zeit von Facebook & Friends ist man nie weit weg von zu Hause, wenn es aber um die wirklich wichtigen Dinge geht, dann ist man damit weiter weg, als es mit einem Brief je sein könnte. Aber die allerschlimmste Frage ist die, wegen der Liebe...

Joschka schläft inzwischen und ich genieße die erste wirklich schöne Nachtfahrt auf der Reise. Das erste Mal ist der Himmel sternenklar und der Mond bescheint alles so hell, dass ich keine Probleme habe den Kurs zu halten oder wach zu bleiben. Es ist das erste Mal, dass ich keine Angst habe bei Nacht, keine Halluzinationen, Gewitter-Wahnvorstellungen, klaustrophobischen Gefühle oder Müdigkeitsanfälle bekomme. Letzteres setzt erst ein, als die Sonne hoch genug steht, Joschka verstanden hat wie man die Segel richtig einstellt und was "zu viel Druck auf dem Ruder" bedeutet.
Als er mich weckt sind wir kurz vor Swinemünde. Es geht durch den Kanal und auf das Stettiner Haff - zum Glück hat uns Joern seine Karten ausgeliehen. Meine waren schon vor zwei Monaten mit dem Gepäck meiner Mutter zurück nach Berlin geflogen - mal wieder so ein typischer Planungsfehler. Auf dem Haff habe ich endlich genug Zeit, einen Geburtstagskuchen zu backen, denn wenn schon alles andere fehlt, muss wenigstens der Kuchen da sein. Es wird ein sehr schokoladiges Etwas mit Frischkäsezeug, Cornflakes und Lions drauf, oder die richtige Formulierung für unsere Gourmetfreunde: ein saftiger Tarte au Chocolat mit einer zarten Frischkäsecrème gefüllt, garniert mit Maisflocken und Schoko-Karamel-Tropfen... - wie auch immer.
Das Gesamtkunstwerk stand genau passend auf dem Kocher, als wir das Tonnentor vor uns haben, dass wir vor 147 Tagen schon einmal passiert hatten, allerdings in die andere Richtung. Was für ein bewegender Moment. Der Sekt wird rausgeholt, Rasmus der letzte Schluck Sherry geopfert und ich freue mich. Ich war echt einmal rum. Das, was so viele Leute, inklusive mir, so lange bezweifelt hatten. "Warte mal ab, bis die im Stettiner Haff das erste Mal einen auf die Mütze kriegt, dann dreht sie schon wieder um", waren die tröstenden Worte meiner Mutter an meinen Vater bei der Abfahrt.

Jetzt geht es aber erst einmal darum, einen Hafen für die Nacht zu finden, in dem man am besten noch an diesem Abend den Mast legen könnte. Wir entscheiden uns, in Ziegenort zu bleiben (4 Stunden vor Stettin), da sehen wir nämlich einen Mastkran und ein Mann erzählt uns, dass der Hafenmeister in zehn Minuten da sein wird. Die Zeit nutzen wir zum Kuchen essen und um das Mastlegen vorzubereiten - schon toll, was man alles in zehn Minuten erledigen kann. Wir gucken auf die Uhr, es ist fast eine Stunde vergangen. Ich gehe zum gleichen Mann wie vorhin, diesmal versichert er uns, dass der Hafenmeister ganz bestimmt in einer halben Stunde kommt. Das nächste Mal, als ich frage kommt dann eine realistischere Antwort: morgen früh um 9!

Wenn wir morgen um 9 polnischer Zeit, 11 deutsche Zeit, anfangen den Mast zu legen, dann noch vier Stunden nach Stettin und von da aus noch 120 Meilen nach Berlin brauchen, sollten wir mal anfangen uns mit dem Gedanken anzufreunden, erst am Montag Abend anzukommen. Aber wie auch immer, heute passiert hier erstmal nichts mehr. Wir schrauben noch die letzten Unterwanten ab, stellen den Wecker auf vier und fallen ins Bett. Das letzte, an was ich an diesem Abend denke, ist die langsam verblassende Hoffnung:"aber, wenn ich doch will?"


Plan IV

Standort: Ziegenort (Polen)
Distanz bis Berlin: 120 sm
Verbleibende Zeit: 2 Tage
Durchschnittliche Tagesstrecke: 60 sm
Status: vorbei


Tag 4 - Der Prinzessin königliche Eskorte

„wo seid ihr denn gerade? wenn ihr in kolberg ankommt liegt auf der pahoa eine windsteueranlage zum mitnehmen“ gesendet Joern Heinrich 17:28 … und ich hatte mein Handy aus, jetzt sind wir in Darlowo und das heutige Tagesziel heißt nicht Kolberg, sondern Dziwnow; Entfernung 65sm, denn da soll es angeblich einen Kanal geben mit zwei Klappbrücken, den man mit einem Tiefgang von 1,25m gerade noch befahren kann. Laut Karte spart das dann eine ganz schöne Ecke Zeit. (siehe Plan) Wieder müssen wir um 5 Uhr aufstehen, um die 30sm aufzuholen, die wir gestern nicht geschafft hatten und ein kleiner Abstecher nach Kolberg soll auch noch drin sein – liegt ja direkt auf dem Weg. Es ist herrlichstes Segelwetter. Es ist sogar so schön, dass ich auf Joschkas Gesicht den Ansatz eines Lächelns finde, als wir mit 6kn und Wind von der Seite – ohne Welle – Richtung Westen düsen. Vor Kolberg wird der Motor angemacht, weil der Wind ziemlich schwach geworden ist und wir uns das „rumdümpeln“ zeitlich gerade einfach gar nicht leisten können. Der Motor rattert, wir sehen die Mole, wir freuen uns; der Motor piept, wir freuen uns nicht mehr.
Was will der denn jetzt plötzlich? Die ganze Reise lief er zuverlässig und jetzt überhitzt er plötzlich – ich hatte dieses Geräusch schon fast vergessen.
Joschka geht runter und untersucht alles, was wir inzwischen kennen gelernt haben: Wasserfilter, Wasserzufluss, Impeller – aber nichts. Zwar stellen wir fest, dass mal wieder ein neuer Wasserfilter her müsste, aber wenn jetzt schon was im Motor drin ist, bekommen wir das eh nicht so schnell raus. Das hat gerade noch gefehlt, das war’s dann wohl mit Sonntag in Berlin. Ohne Motor sind Kanäle recht schwer zu befahren. Über Funk erlaubt uns der Hafenmeister in den Hafen zu kreuzen. Was heißt „erlaubt“, er findet einfach gerade niemanden, der uns abschleppen könnte, aber es ist ja so schönes Wetter, da ist das nicht so schlimm. Mit Sonnenschein und 3 Windstärken versuchen wir in einem 40m breiten Schlauch gegen 3kn Strom anzukreuzen. Neben uns her fährt ein Gummiboot des „Kapitanat Portu“ und begleitet uns – abschleppen darf es uns nicht, weiß der Geier. Nach einer Ewigkeit rückwärts Kreuzen kommt noch ein weiteres Gummischlauchboot mit drei sehr lustigen Männleins, die alle Shortys und gelbe Fahrradhelmchen tragen. Sie nehmen unsere Leine und wir tuckern endlich in halber Schrittgeschwindigkeit in die richtige Richtung. Wir sind zufrieden, bis sich nach fünf Minuten ein riesiger SAR-Abschlepplotse zu unserer Escorte gesellt. Sie fahren eine Weile neben uns her und winken - na Hauptsache, sie haben Spaß! Uns wird die ganze Aktion etwas peinlich und zwei Fragen fangen an, uns zu quälen: „Hoffentlich ist der Motor auch wirklich kaputt und wir waren nicht einfach nur zu doof.“ „Und wie viel kostet so ein Spaß eigentlich?“
Im Hafen angekommen, irren wir erstmal ein wenig ziellos durch die Gegend. In der Stadt suchen wir nach einem Bootsmotorenhändler. Wir werden von hier nach da und wieder nach hier geschickt und landen am Ende in einem Lager für Sanitätsbedarf. Dass sie natürlich keinen Seewasserfilter haben, hätten wir uns auch gleich denken können. Wir sind frustriert. Joschka kommt auf die Idee (er ist der Meinung, es war seine) mal Joern zu fragen, der sollte sich hier eigentlich auskennen. Während wir unsere viel zu fettigen Frustpommes essen, schreibt er zurück. Er hat einen Mechaniker organisiert und er ist noch in der Stadt und kann als Dolmetscher vorbeikommen. Die Stimmung hebt sich wieder. Die Antworten am Abend sind dann folgende: Der Motor ist wirklich kaputt, kann aber repariert werden und gekostet hat uns die Abschleppaktion ein Lächeln. Joern kennt das eine Abschleppmännlein, für sie war es eine willkommene Übung – herrlich oder?! Dem Motor wird der Blinddarm rausoperiert. Das Thermostat ist versandet. Anschließend schnurrt er wieder, als wenn es kein Morgen gäbe. Bezahlt wird mit der polnischen Wodkawährung und wir sind mehr als zufrieden. Es kann weiter gehen, aber nicht mehr heute Abend, dafür sind wir zu müde. Stattdessen wird der Wecker auf 3 Uhr gestellt und wir verbringen noch einige Zeit mit Jörn auf seiner Pahoa. Zwar haben wir fast einen Tag verloren, aber ich will immer noch am Sonntag da sein, zum Leid von Joschka, der morgen Geburtstag hat.


Plan III

Standort: Kolberg (Polen)
Distanz bis Berlin:
 200 sm
Verbleibende Zeit:
 3 Tage
Durchschnittliche Tagesstrecke: 67 sm
Status:
 langsam wird's knapp


Tag 5 - Kleinkarierter Planungsfehler

Es ist Mittwoch. Wir sind unausgeschlafen. Der Marathon kann starten. Die letzten Tage waren etwas kürzer. Die Wachphasen dauerten gerade mal acht Stunden - von 13 - 21 Uhr - wodurch aber lediglich die Pausen zwischen den einzelnen Mahlzeiten verschwindend gering wurden und Frühstück, Brunch, Mittagessen, Kaffeestunde, Abendessen und Nachtisch nahtlos ineinander über gingen. Dass wir jetzt um 5 aufstehen mussten, war für meinen Kopf dann so unvorstellbar früh, dass er nicht einmal protestierte, sondern resigniert im Stand-By-Modus das übliche Programm von Zähneptzuen bis Ablegen abspielte.

Vor dem ersten Sonnenstrahl sind wir draußen. Bis vor Kurzem hätte das noch geheißen, dass es gerade mal kurz nach drei ist, aber der Winter macht sich plötzlich sehr schnell breit und jeder Tag wird um weitere vier Minuten verkürzt, wie uns das GPS verrät - ich habe keinen Plotter, aber solche existenziellen Informationenen über Sonnenaufgang und Mondaufgang spuckt es dann trotzdem aus. Wir haben heute knapp 80sm bis Kolberg vor uns, also optimistisch gerechnet 16 Stunden und Ankunft nicht vor 21 Uhr, aber dafür sind wir wieder einmal vorwärts gekommen. Gegen Mittag bekomme ich eine SMS von Joern Heinrich, mit dem wir uns eigentlich in Kolberg treffen wollten, aber er muss leider morgen sehr früh nach Berlin. Er fragt, wo wir sind und ich gebe ihm die ungefähre Position: "Kurz hinter Ustka", dann freue ich mich weiter über die Sonne und das Joschka steuert. Es dauert keine Minute und die nächste SMS kommt: "es sind alle Sperrgebierte zu, da wird scharf geschossen und ihr fahrt gerade mitten rein." - Ach, hier ist ein Sperrgebiet? Oops! Nach einem äußerst kurzen Blick auf die Karte springen mir sofort drei Sperrgebiete ins Auge, die die halbe Karte einnehmen - verdammt - und wir sind keine Meile davor - noch mehr verdammt - das heißt für uns nämlich im 90° Winkel abdrehen und erstmal 10sm (2h) raus fahren - am verdammtesten! Und wir haben uns schon die ganze Zeit gefragt, was da vorne für hässliche Schiffe unterwegs sind. Die Aktion bedeutet insgesamt vier zusätzliche Stunden, was natürlich unsere ganze Planung umwirft. Denn wir können nicht um 1 Uhr nachts ankommen, oder realistisch um 3 Uhr und am nächsten Tag gleich um 7 Uhr weiter - wir sind doch keine Tiere. Wir entscheiden uns für die einzige Alternative und drehen wieder im 90° Winkel ab nach Darlowo und kommen mit Sonnenuntergang an der Klappbrücke an. Unsere Dieselvorräte sind komplett aufgebraucht und das Argument, dass wir ein Segelboot haben, zählt bei einer so knapp berechneten Rückfahrt nicht, vor allem, wenn mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5 kn geplant wurde, das aber nur realtistisch ist, wenn der Wind mindestens mit 4 Bft von der Seite kommt - ich denke mein Optimismus ist spürbar. Im Hafenhandbuch steht, dass es hier eine Tankstelle geben soll, davon wissen nur leider die Bewohner nichts. "Aber wir könnten nochmal eine halbe Stunde flußaufwärts gucken, falls es da etwas gibt, hat es aber eh schon zu." Na ganz toll, mein Optimismus fängt an zu schwinden - aber ich will doch am Sonntag in Berlin sein...
Vor uns liegt ein riesiger Holz-Zweimaster am Steg. Die Hälfte der Crew hat sich nun die letzte Stunde mit der Frage beschäftigt, woher wir Diesel bekommen könnten. Ich habe keine Lust mehr und gehe Duschen. Als ich zurück komme steht unser 20l Kanister in der Plicht und am Rand tropft noch übergelaufener Diesel herunter. Kurz danach kommt Joschka mit einem glücklichen Grinsen an Bord: "Die ham uns das geschenkt." Den Rest des Abends freuen wir uns bis zum Einschlafen über die Nettigkeit dieser Leute, die Nettigkeit andere Leute und der Nettigkeit der Welt im Allgemeinen.


Plan II

Standort: Darlowo (Polen)
Distanz bis Berlin:
 230 sm
Verbleibende Zeit:
 4 Tage
Durchschnittliche Tagesstrecke: 
57,5 sm
Status:
 früh aufstehen, aber machbar



Tag 6 - Was sagen Sie dazu, Herr Werdermann? – Die Leiden des jungen Segelan-Werthers

In Leba hingen wir letztendlich 6 Nächte im Hafen fest. Im Sommer ist die Stadt bestimmt ganz nett. Dann sieht man bestimmt nicht die grauen leeren Häuser, sondern nur tausende bunter Badetouristen – aber es war kein Sommer und auch kein schönes Wetter, sonst wären wir ja nicht da geblieben. Für mich waren diese Tage zwar keine wirklich Bereicherung an außergewöhnlichen Erfahrungen, aber ich hatte über die letzten Monate genug gemacht, dass sich das jetzt ausgleichen ließ. Joschka war erst seit zehn Tagen da, von denen wir acht im Hafen verbringen mussten – er bekam nach dem dritten Tag langsam ein psychisches Trauma, das sich in eine ausgewachsene Schizophrenie und Hafenphobie steigerte, was in minütlichen Hasstiraden gegen die Situation und das Segeln allgemein zum Ausdruck kam. Dass es an sich eher nichts mit dem Segeln zu tun hat und es auch nicht normal ist, wollte er mir aber nicht glauben, denn die Hinfahrt hatte er genauso erlebt: nass, kalt und unangenehm. Deshalb folgt hier ein kleines Interview, um einmal einen objektiven Einblick in eine Woche Bordleben bei mir zu bekommen. Guten Tag Herr Werdermann. Segeln bedeutet für viele Menschen Freiheit, Unabhängigkeit, Erleben und Abenteuer. Was verbinden Sie damit?
Im Hafen fest gehalten werden, extreme Wetterabhängigkeit, Stagnation auf engstem Raum, ständige Nässe, überall auch innerhalb des „Wohnraumes“ und stinkende Klamotten ...
Die letzten Tage haben Sie in dem vitalen Örtchen Leba verbracht, dass durch seine Nähe zur größten Wanderdüne Europas bekannt ist. Wie haben Sie die Zeit genutzt? Gab es bei dem attraktiven Angebot überhaupt Zeit zum Entspannen?
Nun aufgrund des extrem beschränkten Angebotes an trockener Kleidung, welches sich auch durch die zur täglichen Routine gewordenen, alle zwei Minuten auftretenden Schauerböen von höchster Konzentration nicht verbesserte, waren die Aktionsmöglichkeiten größtenteils auf die maximal 4qm Wohnbereich der auch an Stehhöhe nicht überdimensionierten Segelyacht lilleMy beschränkt.
Dann hatten Sie aber mit Sicherheit viel Zeit zum Nachdenken und konnten einfach mal „die Seele baumeln lassen“. Was hat Sie in den letzten Tagen am meisten beschäftigt?
Was mache ich hier? Was soll das Ganze? Warum tue ich mir das überhaupt an? Wer ist eigentlich auf diese sch…. Idee gekommen? Und wer hat eigentlich erzählt das Segeln Spaß macht???
Werden Sie nach der Ankunft in Berlin denn überhaupt noch einmal auf ein Segelboot steigen? Und würden Sie einen Urlaub auf der lilleMy trotz ihrer bisher eher negativen Erfahrungen weiterempfehlen?
Falls dieser Urlaub nicht abrupt damit endet dass meine Freundin Merle, die Bootseignerin und Organisatorin des ganzen Wahnsinns, und ich uns gegenseitig zerfleischen oder unsere Beziehung durch eine andere der vielen möglichen Katastrophen ein jähes Ende findet, werde ich wohl nicht drum herum kommen… Zu empfehlen ist ein Urlaub auf der lilleMy natürlich schon, vor allem wenn man auf alle Formen der Selbstgeißelung steht und sich gerne mit Problemen in Bezug auf die eigene Existenz auseinander setzt. Wenn man natürlich genug Mittel hat um „Rasmus“ und all die anderen Segelbosse um ein paar angenehmere Tage zu bestechen, sieht das Ganze natürlich etwas anders aus.

Vielen Dank für das Gespräch und ich hoffe Sie erleben noch Ihren 21. Geburtstag am kommenden Freitag!


Plan I

Standort: Leba (Polen)
Distanz bis Berlin:
 260 sm
Verbleibende Zeit:
 5 Tage
urchschnittliche Tagesstrecke: 
52 sm
Status:
 machbar